Wölfe und Menschen — oder: Wie man Hirngespinste grafisch anschaulich macht

 

Da draußen lauert ein Wolf, er will mein Blut. Wir müssen alle Wölfe töten!

Josef Stalin

 

Vor kurzem sah ich einmal mehr eine Doku über die Wölfe in Deutschland und die darüber entstandenen Kontroversen in der Bevölkerung. Ich hatte mich schon seit längerem gewundert, dass es Leute gibt, die bei 82.000.000 Menschen in Deutschland nicht in der Lage sind, ganze 300 oder 400 Wölfe zu dulden (letzte Zahlen von 2017 deuten wohl auf ca. 370 Tiere hin, siehe hier). Das schien mir doch ein sehr krasses Missverhältnis zu sein. Ich wollte es genau wissen und beschloss, mir das zahlenmäßige Verhältnis von Menschen und Wölfen in Deutschland mit Hilfe einer Grafik klarer zu machen — es mir also buchstäblich einmal wirklich vor Augen zu führen.

Nun wäre es vielleicht unfair, alle Einwohner Deutschlands den Wölfen gegenüberzustellen, denn eine wirkliche Wolfsbesiedlung mit standorttreuen Rudeln gibt es bisher eigentlich nur in 5 Bundesländern (siehe Karte unten):  in Brandenburg (2,5 Mio. Einwohner), Sachsen (4,1 Mio.), Sachsen-Anhalt (2,2 Mio.), Mecklenburg-Vorpommern (1,6 Mio.) und in Niedersachsen (7,9 Mio.).

Woelfe_Ausbreitung in Deutschland_2017

Zusammen haben die genannten 5 Bundesländer etwa 18,3 Mio. Einwohner. Diese Zahl wollen wir für den Vergleich benutzen.

18.300.000 Menschen stehen also 370 Wölfe gegenüber. Auf einen Wolf kommen somit ziemlich genau 18.300.000 : 370 ≈ 49.459 Menschen. Es ist nun alles andere als einfach, ein solches Verhältnis grafisch so darzustellen, dass man am Ende auch die wenigen Wölfe noch sieht. Ich musste ziemlich lange mit Piktogramm-Männchen und -Wölfen experimentieren, bis ich eine einigermaßen akzeptable Lösung gefunden hatte; durch die starke Verkleinerung, die nötig war, um das Ganze für die Webseite passend zu machen, sind die 49.459 Männchen allerdings nicht mehr als solche zu erkennen (siehe Grafik unten) und wirken nur noch wie viele kleine Striche (leider wurde alles auch etwas unscharf, sorry); und die LeserInnen müssen seehr weit herunterscrollen, bis Sie endlich des einzigen kleinen, für die erwähnten 370 Tiere stehenden Wölfleins ansichtig werden, das der riesigen Masse von Strichmännchen gegenübersteht — und dabei ist das Wolfs-Symbol gegenüber den Männchen sogar noch vergrößert, um überhaupt als solches erkennbar zu sein (aber die Zahl der Wölfe nimmt ja in den letzten Jahren auch deutlich zu und wird das vermutlich auch zukünftig tun, also ist das schon in Ordnung):

Menschen und Woelfe_2018-10

Die Grafik ist spektakulär, ich würde sogar fast sagen: erschütternd. (Wer es nicht glaubt, kann gerne nachzählen: eine Reihe besteht aus 100 Strichmännchen, jeder der durch einen kleinen Lehrraum getrennten Blöcke hat 50 Zeilen, umfasst also 50 x 100 = 5000 Männchen, knapp 10 Blöcke ergeben somit die besagten 49.459 Männchen, die für die 49.459fache Übermacht des Menschen gegenüber dem Wolf stehen.)

Wie ist es nur möglich, dass angesichts dieses atemberaubenden Missverhältnisses viele Menschen trotzdem gegen die winzige, verschwindende Minderheit der paar Wölfe aufbegehren und sie, nur 18 Jahre nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, erneut ausrotten wollen? Die riesige Masse von 18.300.000 Menschen, die noch dazu durch ihre technischen Errungenschaften endlos überlegen und mit allem Komfort und aller Sicherheit der modernen Welt ausgestattet ist, kann nicht mit armseligen 370 Wölfen auskommen?!

Sicher: für Schäfer und andere Nutztierhalter ist die Situation in Gebieten mit Wolfsbesiedlung schwieriger geworden; aber: 1) erhalten Betroffene, die durch den Wolf Tiere verlieren, vom Staat Entschädigungen, 2) gibt es wirksame Schutzmaßnahmen (Herdenhunde, Elektrozäune), 3) ist für Schäfer das Hauptproblem nicht der Wolf, sondern dass ihnen ihre Plackerei nur mit einem Hungerlohn vergolten wird und schließlich 4): wer ist schon Schäfer? Die von den Wölfen geschädigten Menschen stellen eine ähnlich verschwindende Minderheit dar wie Meister Isegrim selbst.

Die Leute hätten Angst, ihre Kinder draußen allein spielen zu lassen, sagt eine Mutter in der Doku. Warum? Weil im Straßenverkehr in Deutschland 2017 knapp 30.000 Kinder zu Schaden kamen, davon 61 zu Tode (Zahlen des Statistischen Bundesamtes)?! Weil die derzeit ca. 8,7 Mio. (!) Hunde in Deutschland jährlich etwa 20.000 bis 30.000 Mal zubeißen und dies in den letzten Jahren für 1 bis 6 Menschen pro Jahr, darunter ebenfalls viele Kinder, tödlich endete (aus den Stuttgarter Nachrichten)?! Nein, natürlich weil seit einiger Zeit wieder ein paar vereinzelte und kaum wahrnehmbare Wölfe in Wald und Flur umherstreifen!

Es ist sehr unwahrscheinlich, aber natürlich nicht unmöglich, dass einmal ein Wolf in Deutschland einen Menschen angreift. Vereinzelte Fälle in Europa wurden dokumentiert. Aber das wäre keineswegs die Katastrophe, als die Wolfsgegner sie hinstellen (und gleichzeitig insgeheim herbeisehnen), und es wäre nach einem solchen Ereignis genausowenig gerechtfertigt, den Wölfen in ihrer Gesamtheit nachzustellen, wie jetzt. Denn gemäß einer solchen Logik müsste man auch Wespen und Bienen ausrotten (Allergiker können durch einen Stich sterben), alle Seen und Flüsse trockenzulegen (man kann in ihnen ertrinken) und sämtliche Bäume fällen (Kinder klettern auf sie und können herunterfallen). Von den schon erwähnten Millionen von Autos und Hunden ganz zu schweigen.

Beim phobisch gefürchteten Wolf werden völlig verzerrte Risikomaßstäbe angelegt. Es darf für die gigantische Masse von Menschen (siehe nochmal die Grafik) von der zwergenhaften Minorität der Wölfe auch nicht die kleinste Winzigkeit von irgendeiner Gefahr ausgehen, so wollen es jedenfalls die Wolfsgegner. 99,99% Sicherheit reichen nicht — es müssen absolut und unbedingt 100% sein! Der Triumph des Menschen hat um jeden Preis total zu sein; der Mensch ist unendlich viel wert, der Wolf nichts. Dass die extrem seltenen Tiere dutzendweise von Kraftfahrzeugen niedergewalzt werden, spielt nicht die geringste Rolle; der kleinste Kratzer aber, den – vielleicht, irgendwann – einmal ein Kind durch einen Wolf erleiden könnte, der wäre die größte Katastrophe des Abendlandes.

Man kann die Einstellungen der wolfsängstlichen Menschen als einen totalitären Speziesismus bezeichnen. Wie der Rassismus andere Ethnien übergeht und entwertet, so tut es der Speziesismus mit anderen biologischen Arten. Der Homo sapiens, wie er sich selbstgefällig nennt, ist die Herrenart, der sich alle anderen Spezies zu unterwerfen und deren Zwecken sie zu dienen haben. Raubtiere wie Wölfe, zu deren Beutespektrum theoretisch auch Homininen zählen, sind eine Beleidigung für derartige Omnipotenzfantasien. Fantasien, die vor allem deshalb möglich sind, weil man sich blind macht für die eigentlich offenkundige Wahrheit, dass der Mensch selbst das aggressivste und grausamste Raubtier ist, das die Biosphäre dieses Planeten je hervorgebracht hat.

© Matthias Wehrstedt 2018

 

16 Gedanken zu “Wölfe und Menschen — oder: Wie man Hirngespinste grafisch anschaulich macht

  1. Super, die Grafik spricht für sich.
    Übrigens wurde der einzige Wolf der im Frankfurter Stadtgebiet gesichtet bei einen Verkehrsunfall getötet

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  2. Nicht zu vergessen die 770 Mio. € Schäden durch Wildunfälle (Wildschwein, Reh, Hirsch etc.) die das Versicherungsgewerbe angibt für 2017. Der Wolf ist der beste Assistent des Jägers und des Försters, allerdings natürlich nur, wenn sich diese richtig als solche begreifen …

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  3. Noch was: Der einzige Wolf, der in Deutschland den Menschen im 20. Jahrhundert gefährlich wurde, hieß mit Vornamen Mischa, war General der Stasi, Mielkes Stellvertreter, und hatte verdammt viel Menschenblut an den Pfoten. Zum Glück ist er schon lange tot!

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  4. Das ist einfach nur gut!!!! Endlich spricht einmal jemand aus, was Fakt ist. Diese ganze Hetze gegen die Wölfe ist so durchsichtig und von politischer Stimmenfangerei und Panikmache durchzogen, dass eigentlich der Dümmste verstehen könnte, wenn er wollte, dass vom Wolf gar keine Gefahr ausgeht. Aber es steht jeden Tag jemand auf, der es nicht verstehen kann und will. Man könnte sich informieren, tut man aber nicht. Leider!
    Deshalb nochmals herzlichen Dank für diesen wunderbaren Artikel!!!!

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      • Nun, ich werde sicher nicht einfach zu ihm rausgehen. Aber ich wette, er kommt gar nicht „vor die Tür“, er geht seines Weges. Er hält aus schlechter Erfahrung Abstand zu Menschen. Er braucht aber Lebensraum, und dieser steht ihm auch zu.
        Ich finde den Artikel ganz toll! Die Verkehrs- und Hundetoten sprechen doch eine deutliche Sprache.
        Wölfe sind m. W. eher scheu. Sie sind sogar sehr schwer zu finden. Und dass es eine Aufsichtspflicht die Kinder betreffend gibt, ist ja nicht neu…

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  5. Selten so einen populistischen Kanal gesehen. Ich beschäftige mich schon seit Jahren mit dem Thema. Ein Wolf ist kein Schmuse-Kätzchen. Jährlich werden auf der Welt 1 bis 2 Menschen vom Wolf getötet. Ach so, stimmt nicht, in Deutschland ist alles anders. Hier sind die Wölfe viel besser erzogen.
    Eine Mutter kann in den gefährdeten Gebieten nicht wie früher das Baby für den Mittagsschlaf auf die Terrasse hinters Haus stellen. Der Wolf nimmt immer die Schwächsten (ja ich weiß er ist ein Nachtjäger). Komisch dass im Zoo die Wölfe aber tagsüber gefüttert werden.
    Ich finde es unverantwortlich so ein Raubtier zu verniedlichen.

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    • @ Walter:
      Ich verstehe Ihre Kritik nicht. Ich schreibe doch ausdrücklich, dass der Wolf dem Menschen gefährlich werden kann, wenn auch sehr selten. Natürlich können Zwischenfälle auch in Deutschland passieren. Gerade das thematisiere ich doch am Ende des Artikels. Ich schlage vor, Sie lesen das Ganze einfach noch mal in Ruhe durch….

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  6. @ Walter: Zur Ergänzung der Antwort von Langsames-Denken.net:
    30 tote Jäger, Ehefrauen, Nachbarn in 2017
    8 Jan 2018
    Bei Jagdunfällen und kriminellen Gewalttaten durch Jäger kamen 2017 in Deutschland mindestens 31 Menschen ums Leben.
    Weit mehr, als beispielsweise durch den Wolf in ganz Europa in den letzten 70 Jahren.
    Die Recherche basiert auf der Dokumentation von Zeitungsberichten.
    Es ist anzunehmen, dass die Dunkelziffer noch höher ist.

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  7. Schwierige Argumentation. Als Psychologe sollten sie verstehen, dass intuitive Urteile auch ihre Berechtigung haben. Die wenigen Toten durch Wölfe – wenn sie geben sollte – kommen ja „on the top“. Damit ist das von Ihnen genutzte Prinzip der pragmatischen Konsistenz im Umgang mit Risiken angreifbar; Motto: Jeder Tote ist ein Toter zuviel. Und weiter : Mit Ihrer Logik, der ich ausdrücklich zustimme, lassen sich auch Glyphosat, DDT, und Acrylamid in Lebensmitteln rechtfertigen. Das wäre dann auch hinzunehmen, oder?

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    • Ich wollte vor allem darauf hinweisen, dass hinter der Wolfsangst eine speziesistische IDEOLOGIE steckt, die besagt, dass der Mensch ALLE Rechte hat, sich unbehindert millionenfach ausbreiten darf, und andere Lebewesen, sofern sie für ihn auch nur das winzigste Problem darstellen, ÜBERHAUPT KEINE Rechte haben und nicht mal in allerkleinsten Mengen existieren dürfen.

      Natürlich gibt es zusätzlich auch den Aspekt, dass die modernen Menschen maßlos geworden sind in ihrem Bedürfnis nach totaler Sicherheit vor absolut allen Gefahren und jeder Form von Unbequemlichkeit. Das spielt hier auch eine Rolle, klar. Ist aber nochmal ein etwas anderes Thema…

      Und unsere intuitiven Urteile sollten wir stets an der Realität und an der Vernunft überprüfen. Was ich ja mit dem Artikel in Bezug auf die Wolfsfrage versucht habe.

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  8. Zu Peter Wiedemann. Vielleicht liegt der Unterschied zu Wölfen und den von ihnen genannte Herbiziden auch darin, das Wölfe immer schon da waren, als ein natürlicher Teil unserer Welt. Während die Herbizide mit ihren gesundheitlichen Risiken ,von Menschen selbst produziert worden sind. Ich vermute aber auch das die Bewohner von Ituzaingó Anexo lieber ein Wolfsrudel in ihrer Umgebung hätten, als die mit Glyphosat und Endosulfan behandelten Felder.

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  9. Die Betrachtung ist die eines einzelnen Aspekts. Diese ist auch korrekt. Das Problem bedarf weiterer Betrachtung. Es ist bedeutend vielschichtiger als nur die Bedrohung von Menschenleben durch Wölfe. Da wären folgende Fragestellungen:
    Wie wirkt sich die Einführung einer neuen Art auf unser Ökosystem aus?
    https://l.facebook.com/l.php?u=https%3A%2F%2Fwww.wissenschaft.de%2Fumwelt-natur%2Fdie-zeit-laesst-sich-nicht-zurueckdrehen%2F%3Ffbclid%3DIwAR31yvDzc5kCZ1CofbfcZU98lN_ONtAXsUkxYrJXfVWSVgQAwg0Ws4RtFYg&h=AT2FL7OIsekz2Ckw84in5N1foilje3q4JGLaYCpy8c1GR0gTD1G8wv_5jWknxwYVgj0pFRS59SrGgAqbSmH-a8gBebiF291kEJULysPtT6ZBBKICTSgXPU8rZb-u9fZtB_AD
    Was bewirkt abrupter Totalschutz einer Spezies im Ökosystem? Nachzuprüfen an Rabenvögeln, Greifvögeln, Bieber, Kormoran und Gänsen?
    Wie wirkt sich die Einführung einer neuen nicht gefährdeten Art auf die bisher bereits gefährdeten Arten aus?
    Wie wirkt sich die Einführung einer neuen Art auf die bestehenden land-, forst- und fischereiwirtschaftlichen Strukturen aus?
    Wie hoch ist die benötigte, bzw. tolerable Dichte der neu eingeführten Art?
    nicht zuletzt: Was kostet das?
    Wenn Sie diese Fragen langsam durchdacht haben, können wir uns gerne wieder unterhalten. Mir fallen noch ein paar Fragen zu diesem Thema ein, die zu stellen notwendig sind, um das Thema umfassend zu beleuchten und gültige Schlüsse zu ziehen.

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