Anmerkungen zur Willensfreiheit (1)

… nowhere to go but right here …

Kate Pierson

Der Philosoph Ansgar Beckermann nennt in seiner kurzen Webeinführung zum Problem der Willensfreiheit als erste Bedingung dafür, dass eine Entscheidung frei genannt werden kann: „Die Person muss eine Wahl zwischen Alternativen haben; sie muss anders handeln bzw. sich anders entscheiden können, als sie es tatsächlich tut.“

Ich stehe z.B. vor der Alternative, erst einen wichtigen Brief zu öffnen, der an diesem Morgen in der Post war oder, wie ich es mir schon seit 3 Tagen vorgenommen habe, zunächst den übervollen Mülleimer rauszubringen und in den Sammelcontainer zu leeren. Nach kurzem Zögern lese ich zuerst den Brief. Was soll das nun heißen: ich hätte auch genauso gut (zuerst) den Müll runtertragen können? Dass ich dem Brief Priorität einräumte, zeigt doch, dass in diesem Moment mein innerer Zustand und die äußeren Umstände so beschaffen waren, dass sie eben genau zu der Entscheidung für den Brief führten. Gesetzt den Fall, man könnte das Geschehen „zurückspulen“ bis zu dem Zeitpunkt kurz vor meiner Entscheidung, also als ich kurz zögerte, und dann die Ereignisse sich ein zweites Mal frei entfalten lassen: wie könnte daran ein Zweifel bestehen, dass ich auch dann zuerst den Brief zur Hand genommen hätte? Und wenn man 100 Mal zurückspulen würde, so würde ich mich 100 Mal für den Brief entscheiden. Ganz einfach weil die Dinge eben kurz vor der Entscheidung so lagen wie sie lagen. „Ich hätte auch zuerst den Müll entsorgen können“ ist nichts als eine sinnleere Behauptung. Ebenso bezeichnend wie zutreffend ist der sprachwissenschaftliche Fachbegriff für eine solche grammatikalische Konstruktion: Irrealis der Vergangenheit.

Oder, knapp und zugespitzt: Wenn sich der Mensch zu bestimmten Zeitpunkten auch anders entscheiden könnte, warum tut er es dann nie? Wir können tun was wir wollen, aber eben auch nichts anderes.

© Matthias Wehrstedt 2019

Bild: Luuk de Haan: Ohne Titel.

Der unkontrollierte Körper ~ Der Mythos vom steuernden Gehirn ~ (Teil I)

Die Natur hat keinen Anfang und kein Ende. Alles in ihr steht in Wechselwirkung, alles ist relativ, alles zugleich Wirkung und Ursache, alles in ihr ist allseitig und gegenseitig; sie läuft in keine monarchische Spitze aus; sie ist eine Republik.
Ludwig Feuerbach

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1. Das Gehirn als Kontroll- und Steuerungsorgan

Die moderne Neurowissenschaften und ihre Teildiziplinen Neurologie, Neurobiologie, Neuropsychologie, Neurophilosophie usw. sind seit einigen Jahren auch für ein breiteres Publikum immer interessanter geworden, versprechen sie doch ganz neue Erkenntnisse bezüglich der Sicht des Menschen auf sich selbst und bezüglich der Vorgänge, die sich in komplexen biologischen Systeme, sprich: höheren Lebewesen abspielen. Neuerdings gibt es außerdem so seltsame Fachgebiete wie Neurotheologie oder Neuro-Marketing, was die große Wichtigkeit unterstreicht, die den neuen Entdeckungen von einem großen Teil der scientific community und der interessierten Öffentlichkeit beigemessen wird. Ob dabei immer der Mehrwert an Erkenntnis und neuem und anderem Verständnis der Wirklichkeit erzielt wird, den die Vertreter der Zunft behaupten, scheint nicht selten eher zweifelhaft. Dies soll hier aber nicht weiter erörtert werden.

Im Mittelpunkt fast aller neurowissenschaftlichen Untersuchungen und Überlegungen steht das Gehirn. Diese bei höheren Tieren extrem komplexe, hoch vernetzte Ansammlung von Nervenzellen wird als Dreh- und Angelpunkt des gesamten Organismus angesehen. Was die Beziehungen zwischen Gehirn und anderen Teilen des Körpers angeht, so ist die Alltagsauffassung die, dass das Hirn eine Steuerungszentrale ist, die den anderen Teilen des Körpers, insbesondere den Muskeln, per Nervensignalen Befehle sendet, und diese Körperteile dann „im Sinne des Gehirns“ funktionieren. Das Gehirn wird gedacht als beherrschendes Organ des Körpers, als die „monarchische Spitze“ aus dem Feuerbachschen Eingangszitat, die über den restlichen Organen thront und sie steuert und befehligt. Vermutlich werden die allermeisten LeserInnen diese Ansicht intuitiv teilen.Weiterlesen »