Spiegel der Vergangenheit

Vor geraumer Zeit führte mich ein Spaziergang zu dem Haus in Kassel, in dem ich in den 1980er und 90er Jahren einige bewegte Jahre in einer WG gelebt hatte. Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoss und so stand ich auf dem Gehweg direkt vor dem Fenster meines ehemaligen Zimmers, und nur 2 bis 3 Meter und die dicke Außenwand des Gründerzeitbaus trennten mich von meinem früheren Platz am Schreibtisch, wo ich damals viel Zeit verbracht habe.

Und wie ich da so stand und mir mich selbst vorstellte, wie ich da vor vielen Jahren nur zwei Schritte entfernt hinter der Mauer gesessen haben mochte, wehte mich, wie von sehr weit her, ein ganz eigenartiger Gedanke, eine seltsam unwirkliche Verwunderung an:

Wie kann ich denn Damals – Dort – Gewesen sein,

wo ich doch . . . . . Heute – Hier – Bin?

Anmerkungen zur Willensfreiheit (1)

… nowhere to go but right here …

Kate Pierson

Der Philosoph Ansgar Beckermann nennt in seiner kurzen Webeinführung zum Problem der Willensfreiheit als erste Bedingung dafür, dass eine Entscheidung frei genannt werden kann: „Die Person muss eine Wahl zwischen Alternativen haben; sie muss anders handeln bzw. sich anders entscheiden können, als sie es tatsächlich tut.“

Ich stehe z.B. vor der Alternative, erst einen wichtigen Brief zu öffnen, der an diesem Morgen in der Post war oder, wie ich es mir schon seit 3 Tagen vorgenommen habe, zunächst den übervollen Mülleimer rauszubringen und in den Sammelcontainer zu leeren. Nach kurzem Zögern lese ich zuerst den Brief. Was soll das nun heißen: ich hätte auch genauso gut (zuerst) den Müll runtertragen können? Dass ich dem Brief Priorität einräumte, zeigt doch, dass in diesem Moment mein innerer Zustand und die äußeren Umstände so beschaffen waren, dass sie eben genau zu der Entscheidung für den Brief führten. Gesetzt den Fall, man könnte das Geschehen „zurückspulen“ bis zu dem Zeitpunkt kurz vor meiner Entscheidung, also als ich kurz zögerte, und dann die Ereignisse sich ein zweites Mal frei entfalten lassen: wie könnte daran ein Zweifel bestehen, dass ich auch dann zuerst den Brief zur Hand genommen hätte? Und wenn man 100 Mal zurückspulen würde, so würde ich mich 100 Mal für den Brief entscheiden. Ganz einfach weil die Dinge eben kurz vor der Entscheidung so lagen wie sie lagen. „Ich hätte auch zuerst den Müll entsorgen können“ ist nichts als eine sinnleere Behauptung. Ebenso bezeichnend wie zutreffend ist der sprachwissenschaftliche Fachbegriff für eine solche grammatikalische Konstruktion: Irrealis der Vergangenheit.

Oder, knapp und zugespitzt: Wenn sich der Mensch zu bestimmten Zeitpunkten auch anders entscheiden könnte, warum tut er es dann nie? Wir können tun was wir wollen, aber eben auch nichts anderes.

© Matthias Wehrstedt 2019

Bild: Luuk de Haan: Ohne Titel.

Das Mysterium des Geistes

Es stimmt eher mit dem Geist der Naturwissenschaften überein, eine dualistische Auffassung zu akzeptieren, die unsere Unfähigkeit anerkennt, zu erklären, warum es Bewusstsein gibt, als unsere explanatorischen Sehnsüchte mit einem mysteriösen [materialistischen] Monismus zu besänftigen.

William S. Robinson

In diesem Artikel möchte ich einen Gedanken etwas näher ausführen, den ich in meinem letzten Text als selbstverständlich vorausgesetzt hatte – nämlich, dass immaterielle geistige Ereignisse (also Erlebnisse, Empfindungen etc.) und physikalische Vorgänge (also auch Hirnaktivitäten) in keine wie auch immer geartete kausale Interaktion miteinander treten können. Dass im Kopf wohl keine immaterielle Seele oder ein Homunkulus sitzt, der die Nervenzellen dirigiert, wie noch ein Descartes glaubte, scheint uns modernen Menschen – zumindest den gebildeteren – relativ selbstverständlich. Anders sieht es aber aus mit der umgekehrten Vorstellung, nach der das elektrochemische Geschehen im Nervensystem die Ursache für die bewussten Gehalte unserer Gedanken und Gefühle sei. Dies ist sogar momentan die allgemeine Standard-Vorstellung von Neurowissenschaftlern, Philosophen und Psychologen.Weiterlesen »

Woran würde ich merken, dass mein Computer Bewusstsein hat?

In der letzten Zeit wird ja um die Künstliche Intelligenz (KI, oder engl. AI = artificial intelligence) ein großer Bohei gemacht angesichts der Fortschritte, die auf diesem Gebiet stattfinden, sowie der vermeintlichen wirtschaftlichen Bedeutung, die diese Technik in Zukunft haben wird.

Eine interessante philosophische Frage in diesem Zusammenhang ist die, ob denn eine Künstliche Intelligenz auch irgendwann einmal Bewusstsein ausbilden könnte. Eine bewusste KI würde sich von einer nicht-bewussten dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur Denkoperationen (im weitesten Sinne) ausführen könnte, sondern dass sie auch Erlebnisse hätte; das heißt, sie hätte beispielsweise wie wir eine Empfindung von Röte, wenn man einen roten Gegenstand vor ihrer Kamera plazieren würde, oder es würde sich für sie irgendwie anfühlen, wenn sie nachdenkt, sie könnte ein Problem, das sie versucht zu lösen, als schwierig empfinden und seine Bedeutung erfassen, oder sie könnte vielleicht auch zu guter Letzt ein Gefühl von sich selbst als dem Rest der Welt gegenübergestelltes Subjekt entwickeln und sich also als ein Ich erleben. Philosophen wie Thomas Metzinger gehen schon jetzt fest davon aus, dass Maschinen in nicht allzu ferner Zukunft auch Bewusstsein besitzen werden, so z.B. in seinem recht bekannten Buch „Der Ego-Tunnel“ (Metzinger, 2014). Ob das stimmt sei dahingestellt.

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Meme (8): 115ter Geburtstag von Theodor W. Adorno

Am 11. September 1903 wurde der Philosoph Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main als Sohn der Sängerin Maria Calvelli-Adorno und des jüdischen Weingroßhändlers Oscar Alexander Wiesengrund geboren. Er gilt als der wohl bedeutendste Vertreter der Kritischen Theorie, die auch unter dem salopperen Namen Frankfurter Schule berühmt wurde. In seinem Werk wird die Hegelsche Dialektik, der Marxsche Antikapitalismus und Ideen der Psychoanalyse weitergedacht in Richtung einer ebenso radikalen wie fundamentalen Kritik der modernen hochtechnisierten Gesellschaften und der sie beherrschenden positivistisch-szientistischen Ideologie. Adorno gilt außerdem als bedeutender Komponist. Er verstarb im August 1969 während eines Urlaubs in den Schweizer Bergen.

Mem-Bild in voller Größe:  http://www.imagebam.com/image/4d1b6b971281384

 

© Matthias Wehrstedt 2018

Lobpreis des Inneren Schweinehunds

[…] es gibt […] nichts, was einen zum Weitermachen veranlasst; darin, dass das Leben weitergeht, besteht sein eigentliches Wesen. Der Mensch wird nicht durch Motive regsam und aktiv gemacht; seine Regsamkeit ist einfach ein Aspekt seiner Existenz.

George A. Kelly

 

Arbeitsethos, Leistungsorientierung und Selbstoptimierung sind sehr typische Erscheinungen der modernen Welt. Dass wir heute in den „westlichen“ Staaten – verglichen mit den offen repressiven Gesellschaften vergangener Zeiten – (noch) relativ frei leben können, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es heute keines gewaltsamen Ansporns der herrschenden Schichten mehr bedarf, um das Volk zu Disziplin und Arbeit zu zwingen. Die Menschen des späten Kapitalismus sind längst ihre eigenen Antreiber und Bewacher geworden.Weiterlesen »

Im Paradiesgarten der Venus

Kommen die wärmeren Tage, so hören die Uferbewohner
nachts das Flußeis mit einem schrecklichen Knall
kanonenschußgleich aufbrechen, als seien die eisigen
Fesseln des Flusses von einem Ende zum anderen zerrissen.
H. D. Thoreau, Walden

Frühlingsanfang! Der lange Winter ist (kalendarisch) vorbei, aufs Neue beginnt (bald!) wie seit Millionen von Jahren in den kühl-gemäßigten Zonen der nördlichen Hemisphäre eine neue Vegetationsperiode. Jedes Jahr das Gleiche und doch auch jedesmal wieder mit einer ganz neuen und ganz eigenen Erleichterung und Vorfreude verbunden. Zu allen Zeiten war das Frühjahr auch eine Zeit besonders gehobenen Empfindens, gerade auch auf religiösem Gebiet.Weiterlesen »

Idiotenquiz

Man kann und muss im Namen
der Demokratie gegen die Einschaltquote kämpfen.

Pierre Bourdieu

 

Ein paar Anmerkungen zu jenen Anruf-Gewinnspielen im Privatfernsehen, bei denen für die zu lösenden Fragen zwei Antwortalternativen vorgegeben werden, von denen eine sich von selbst versteht, während die andere völlig abwegig ist, und die deshalb selbst auf den schlicht gestrickten Zuschauer vollkommen debil und würdelos wirken.

Drei Beispiele aus der RTL-Boulevardsendung „Punkt 12“ und die LeserInnen wissen sicher sofort, was ich meine:

Was ist die Abkürzung für Winterschlussverkauf?  a. WSV,  b. 1. FC Köln  (RTL, Punkt 12, Jan. 2011)

Wie heißt eine berühmte Comic-Figur?  a. Batman, b. Bettdecke  (RTL, Punkt 12, 08.01.2018)

Zu wem gehen wir, wenn wir krank sind?  a. Hausarzt, b. Hausmeister  (RTL, Punkt 12, 11.01.2018)Weiterlesen »