Kommen die wärmeren Tage, so hören die Uferbewohner
nachts das Flußeis mit einem schrecklichen Knall
kanonenschußgleich aufbrechen, als seien die eisigen
Fesseln des Flusses von einem Ende zum anderen zerrissen.
H. D. Thoreau, Walden
Frühlingsanfang! Der lange Winter ist (kalendarisch) vorbei, aufs Neue beginnt (bald!) wie seit Millionen von Jahren in den kühl-gemäßigten Zonen der nördlichen Hemisphäre eine neue Vegetationsperiode. Jedes Jahr das Gleiche und doch auch jedesmal wieder mit einer ganz neuen und ganz eigenen Erleichterung und Vorfreude verbunden. Zu allen Zeiten war das Frühjahr auch eine Zeit besonders gehobenen Empfindens, gerade auch auf religiösem Gebiet.
Während jedoch das düstere Christentum uns just im beginnenden Frühling auf das Leiden und den grausigen Foltertod seines Gottessohnes Jesus hinleitet und eingedenk dieses heraufdräuenden Schrecknisses den Gläubigen eine vierzigtätige Fastenzeit verordnet, waren die antiken Religionen viel lebensnäher und in aller Regel geneigt, den jährlich stattfindenden Sieg über den Winter angemessen und mit allem überirdischen Gepränge zu feiern. In eben diesem Geiste zeigt uns der berühmte florentinischen Renaissance-Maler Allesandro di Mariano Filipepi, genannt Botticelli (1445 – 1510) in seinem großformatigen (203 x 314 cm) Gemälde Primavera (ital. Frühling) eine heilige Frühlingsszenerie: einen Reigen griechisch-römischer Gottheiten im festlichen Dunkel eines nächtlichen Orangenhains.
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Der Boden des Hains ist über und über mit den verschiedensten Blumen bedeckt – man hat angeblich fast 500 verschiedene Pflanzenarten auf Botticellis Gemälde identifiziert! Mittelpunkt und beherrschende Figur des Bildes ist die Göttin Venus (griechisch: Aphrodite) – über ihr bilden die Kronen der Orangenbäume einen halbkreisförmigen Bogen, der wie ein blattwerkdurchwirkter Glorienschein das Haupt der Göttin umgibt. Der römische Dichter Lukrez (ca. 96 – 54 v. Chr.) besingt in der Einleitung zu seinem großen Lehrgedicht De rerum naturae die den Frühling bringende Venus so:
Mutter der Äneaden, du Wonne der Menschen und Götter,
Lebensspendende Venus: du waltest im Sternengeflimmer
Über das fruchtbare Land und die schiffedurchwimmelte Meerflut,
Du befruchtest die Keime zu jedem beseelten Geschöpfe,
Daß es zum Lichte sich ringt und geboren der Sonne sich freuet.Wenn du nahest, o Göttin, dann fliehen die Winde, vom Himmel
Flieht das Gewölk, dir breitet die liebliche Bildnerin Erde
Duftende Blumen zum Teppich, […]
Denn sobald sich erschlossen des Frühlings strahlende Pforte
Und aus dem Kerker befreit der fruchtbare West(wind) sich erhoben,
Künden zuerst, o Göttin, dich an die Bewohner der Lüfte,
Und dein Nahen entzündet ihr Herz mit Zaubergewalten.
Jetzt durchstürmet das Vieh wildrasend die sprossenden Wiesen
Und durchschwimmt den geschwollenen Strom. Ja, jegliches folgt dir
Gierig, wohin du es lenkest; dein Liebreiz bändigt sie alle;
So erweckst du im Meer und Gebirg und im reißenden Flusse
Wie in der Vögel belaubtem Revier und auf grünenden Feldern
Zärtlichen Liebestrieb in dem Herzblut aller Geschöpfe,
Daß sie begierig Geschlecht um Geschlecht sich mehren und mehren.(Dt. Übersetzung: Hermann Diels, 1924)
Über der Venus schwebt ihr geflügelter Sohn Amor (griechisch: Eros) und verschießt mit verbundenen Augen seine feurigen Liebespfeile. Vor ihr zieht ein Gefolge aus Göttern und Grazien am Betrachter vorbei:
Von rechts bricht ungestüm der Windgott Zephyr durchs Geäst; Zephyr ist eine der Anemoi, göttliche Personifikationen der verschiedenen Winde und Windrichtungen in der griechischen Mythologie. Er ist es, der in der Dielsschen Nachdichtung des Lobpreis der Venus (s.o.) als fruchtbarer, den Frühling bringenden Westwind Erwähnung findet. Der Grund seiner Impulsivität ist die Nymphe Chloris, der er, ganz von den venusischen Zaubergewalten erfasst, nachstellt. Aus Chloris Mund fließt ein Strom von Blüten: nachdem Zephyr sie gewaltsam zur Frau genommen hatte, verwandelte er sie aus Reue in Flora, die Göttin der Blüte und der Schwangerschaft; so berichtet es der römischen Dichter Ovid in seinen Fasti, einer Sammlung von Gedichten zu den römischen Festtagen. Eben diese Flora, die „liebliche Bildnerin Erde“ aus dem Lukrezschen Lobgesang ist die dritte Figur, rechts neben Venus; sie streut Blüten aus, die sich über den Boden des Orangenhains ausbreiten.
Links der Venus tanzen die drei Grazien (griechisch: Chariten), Aglaia (die Strahlende), Euphrosyne (die Frohsinnige) und Thalia (die üppig Blühende) einen versonnenen Reigen. Sie gehören als (Unter)Göttinnen von Anmut, Fruchtbarkeit und Festivitäten ganz natürlich zum Begleitpersonal der großen Venus.
Den Bildabschluss zur Linken bildet der Götterbote Hermes, zu erkennen an den geflügelten Schuhen und an seinem magischen Stab, dem Caduceus (griechisch: Kerykeion). Mit ihm hält er dunkle Wolken fern, die den Paradiesgarten der Venus bedrohen könnten. Oder weist er mit dem Stab über den Bildinhalt hinaus und darauf hin, dass irgendwann einmal Herbst und Winter aus ihrer Verbannung zurückkehren werden?
Ob es nur dem Malstil geschuldet ist, dass alle weiblichen Figuren der Szenerie mittelgradig schwanger wirken? Ich glaube eher nicht, denn sieht man sich andere Gemälde des Meisters an, zum Beispiel die berühmte Geburt der Venus, dann sieht man, dass er sonst seine weiblichen Figuren sehr schlank darstellt…
Botticellis Bild, das Ankunft und Triumph des Frühlings feiert, ist gleichermaßen voller spirituellem Ernst und voller Lebensfreude. Das Leben in all seinen Erscheinungsformen ist in der griechisch-römischen Religiosität nicht das der Verdammnis anheimgegebene „Fleisch“ des Christentums, sondern selbst Träger des Numinosen und erfüllt vom heiligen Geist des Dranges zu leben. Das Verlangen ist hier keine Sünde, sondern Gottesdienst. Wie alle Renaissance-Kunst steht auch Botticellis Gemälde so in einem Spannungsverhältnis zu dem am Ende des 15. Jahrhunderts noch alles beherrschenden christlichen Glauben. Aber in Werken wie diesem werden die ersten Keime der heraufdämmernden Aufklärung spürbar.
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Die LeserInnen dürfen jetzt nicht denken, ich wäre eine Koryphäe auf dem Gebiet der antiken Mythologien. Das Gegenteil ist der Fall. Mühsam musste ich mir die Wissensbruchstücke einzeln zusammensuchen, die für das Verständnis von Botticellis berühmtem Bild notwendig sind, was ja heutzutage dank des allwissenden Internets zum Glück keine große Herausforderung mehr darstellt. Das Netz kennt natürlich all die hunderten und tausenden verästelten Geschichten der griechisch-römischen Götterwelten; die meisten der klassischen Texte von Autoren wie Vergil, Horaz, Cicero, Ovid oder Homer, Hesiod, Aischylos, Sophokles, Tukydides, Plutarch lassen sich online leicht finden, im Original wie in vielerlei Übersetzungen. Aber Menschen, die sich mit dieser altertümlichen Materie noch auskennen, sind rar geworden.
Noch vor 100 Jahren war es selbstverständlich für Akademiker, fließend Latein und oft auch Altgriechisch zu beherrschen und Kunst, Kultur und Geschichte der alten Griechen und Römer umfassend zu kennen. Das sogenannte humanistische Bildungsideal sah – ganz im Geiste der Renaissance – besonders den griechischen Menschen der klassischen Zeit als Idealbild allen Menschseins überhaupt an. So schrieb beispielsweise Wilhelm von Humboldt, einer der Begründer der neuhumanistischen Bildung 1807.
„Wir haben in den Griechen eine Nation vor uns, unter deren glücklichen Händen alles, was unserm innigsten Gefühl nach das höchste und reichste Menschendasein bewahrt, schon zu letzter Vollendung gereift war; wir sehen auf sie wie auf einen aus edlerem und reinerem Stoff geformten Menschenstamm, auf die Jahrhunderte ihrer Blüte wie auf eine Zeit zurück, in welcher die noch frischer aus der Werkstatt der Schöpfungskräfte hervorgegangene Natur die Verwandtschaft mit ihnen noch unvermischter erhalten hatte.“
Soviel naive Schwärmerei befremdet uns heute, solch salbungsvoller Idealismus berührt uns eher peinlich. Die Aufklärung hat letztlich viele ihrer Kinder gefressen und ist längst in einen sehr nüchternen und distanzierten Pragmatismus gemündet, der derlei emotiongeladene Identifikationen missbilligt.
Der moderne Mensch versteht kein Latein mehr, dieses ist vom Englischen als Weltsprache ganz und gar verdrängt worden. Er hat noch nie etwas vom Python gehört, der das Orakel von Delphi bewachte, beherrscht aber Python, die Programmiersprache. Ohne in Lobpreis oder Klagen über die neue oder alte Art der Bildung verfallen zu wollen, ist es doch bemerkenswert, mit welcher Rasanz sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die naturwissenschaftlich-technische Gelehrsamkeit gegen die traditionelle geisteswissenschaftliche durchgesetzt und diese nahezu vollständig als intellektuellen Mainstream abgelöst hat. Ein ganzes Bildungsuniversum ist im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend untergegangen. Es wird wohl nie zurückkehren.
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Jedes Jahr aber kehrt der Frühling zurück. Nach langer winterlicher Ruhephase entfaltet die mächtige Göttin wieder ihre Zaubergewalten und der wundersame venusische Paradiesgarten der Liebe und des Lebens erblüht wie seit unvordenklichen Zeiten aufs neue. In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein wildrasendes und vom zärtlichen Liebestrieb der Venus durchdrungenes Sommerhalbjahr.
Links
Lukrez: De Rerum Naturae. Über die Natur der Dinge. Dt. Übersetzung: Hermann Diels, 1924. > http://www.textlog.de/lukrez-preis-venus.html
Ovid: Fasti. (Lateinisch / Deutsch). http://www.gottwein.de/Lat/ov/ovfast01001_26.php (Auszüge)
© Matthias Wehrstedt 2018