Spiegel der Vergangenheit

Vor geraumer Zeit führte mich ein Spaziergang zu dem Haus in Kassel, in dem ich in den 1980er und 90er Jahren einige bewegte Jahre in einer WG gelebt hatte. Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoss und so stand ich auf dem Gehweg direkt vor dem Fenster meines ehemaligen Zimmers, und nur 2 bis 3 Meter und die dicke Außenwand des Gründerzeitbaus trennten mich von meinem früheren Platz am Schreibtisch, wo ich damals viel Zeit verbracht habe.

Und wie ich da so stand und mir mich selbst vorstellte, wie ich da vor vielen Jahren nur zwei Schritte entfernt hinter der Mauer gesessen haben mochte, wehte mich, wie von sehr weit her, ein ganz eigenartiger Gedanke, eine seltsam unwirkliche Verwunderung an:

Wie kann ich denn Damals – Dort – Gewesen sein,

wo ich doch . . . . . Heute – Hier – Bin?

Gewalt

Le paradis terrestre est où je suis.
Voltaire

Ich habe in diesem Blog schon öfter Kritik am heute vorherrschenden naturwissenschaftlichen Positivismus als vereinseitigter und verabsolutierter Ideologie der modernen Welt geübt. Heute möchte ich aber einmal ausdrücklich einen bekennenden Positivisten reiner Schule loben, genauer gesagt eines seiner Bücher, nämlich Steven Pinker und sein umfangreiches Werk „Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit“ von 2011, dass ich in Frühjahr des Jahres gelesen habe. Es war eines jener Bücher, bei denen man schon während des Durcharbeitens den Eindruck hat, dass sein Inhalt den eigenen Blick auf die Welt grundlegend verändert.Weiterlesen »

Das Mysterium des Geistes

Es stimmt eher mit dem Geist der Naturwissenschaften überein, eine dualistische Auffassung zu akzeptieren, die unsere Unfähigkeit anerkennt, zu erklären, warum es Bewusstsein gibt, als unsere explanatorischen Sehnsüchte mit einem mysteriösen [materialistischen] Monismus zu besänftigen.

William S. Robinson

In diesem Artikel möchte ich einen Gedanken etwas näher ausführen, den ich in meinem letzten Text als selbstverständlich vorausgesetzt hatte – nämlich, dass immaterielle geistige Ereignisse (also Erlebnisse, Empfindungen etc.) und physikalische Vorgänge (also auch Hirnaktivitäten) in keine wie auch immer geartete kausale Interaktion miteinander treten können. Dass im Kopf wohl keine immaterielle Seele oder ein Homunkulus sitzt, der die Nervenzellen dirigiert, wie noch ein Descartes glaubte, scheint uns modernen Menschen – zumindest den gebildeteren – relativ selbstverständlich. Anders sieht es aber aus mit der umgekehrten Vorstellung, nach der das elektrochemische Geschehen im Nervensystem die Ursache für die bewussten Gehalte unserer Gedanken und Gefühle sei. Dies ist sogar momentan die allgemeine Standard-Vorstellung von Neurowissenschaftlern, Philosophen und Psychologen.Weiterlesen »

Wölfe und Menschen — oder: Wie man Hirngespinste grafisch anschaulich macht

 

Da draußen lauert ein Wolf, er will mein Blut. Wir müssen alle Wölfe töten!

Josef Stalin

 

Vor kurzem sah ich einmal mehr eine Doku über die Wölfe in Deutschland und die darüber entstandenen Kontroversen in der Bevölkerung. Ich hatte mich schon seit längerem gewundert, dass es Leute gibt, die bei 82.000.000 Menschen in Deutschland nicht in der Lage sind, ganze 300 oder 400 Wölfe zu dulden (letzte Zahlen von 2017 deuten wohl auf ca. 370 Tiere hin, siehe hier). Das schien mir doch ein sehr krasses Missverhältnis zu sein. Ich wollte es genau wissen und beschloss, mir das zahlenmäßige Verhältnis von Menschen und Wölfen in Deutschland mit Hilfe einer Grafik klarer zu machen — es mir also buchstäblich einmal wirklich vor Augen zu führen.
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Life is a losing game – Zum 35ten Geburtstag von Amy Winehouse

Over futile odds
And laughed at by the gods
And now the final frame
Love is a losing game

Amy Winehouse, Love is a Losing Game, 2006

 

Heute, am 14. September, wäre die britische Soul-Sängerin Amy Winehouse 35 Jahre alt geworden – und also auch heute noch eine junge Frau gewesen. Sie wurde jedoch nur 27: am 23. Juli 2011 wurde Amy Winehouse tot in ihrer Londoner Wohnung aufgefunden; unmittelbare Todesursache war vermutlich eine Alkoholvergiftung.

Ich halte zwar eigentlich wenig von Ferndiagnosen, aber bei Amy Winehouse springt den klinischen Psychologen der Verdacht auf eine Borderline-Persönlichkeitsstörung geradezu an – so ging es mir wenigstens, auch als ich noch wenig über die Sängerin wusste. Beschäftigt man sich ein wenig näher mit ihrem Leben – z.B. ist die sehr bewegende Dokumentation Amy – The girl behind the name von Asif Kapadia zu empfehlen – verstärkt sich diese Vermutung noch.Weiterlesen »

Lobpreis des Inneren Schweinehunds

[…] es gibt […] nichts, was einen zum Weitermachen veranlasst; darin, dass das Leben weitergeht, besteht sein eigentliches Wesen. Der Mensch wird nicht durch Motive regsam und aktiv gemacht; seine Regsamkeit ist einfach ein Aspekt seiner Existenz.

George A. Kelly

 

Arbeitsethos, Leistungsorientierung und Selbstoptimierung sind sehr typische Erscheinungen der modernen Welt. Dass wir heute in den „westlichen“ Staaten – verglichen mit den offen repressiven Gesellschaften vergangener Zeiten – (noch) relativ frei leben können, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es heute keines gewaltsamen Ansporns der herrschenden Schichten mehr bedarf, um das Volk zu Disziplin und Arbeit zu zwingen. Die Menschen des späten Kapitalismus sind längst ihre eigenen Antreiber und Bewacher geworden.Weiterlesen »

Luther und der Höllengott

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn,
dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Friedrich Nietzsche

 

Im Jahr 2017, genau am 31. Oktober, jährt sich die Veröffentlichung von Martin Luthers 95 Thesen gegen den Ablasshandel [1], der als Auftakt der heute unter der Bezeichnung „Reformation“ bekannten religiösen Revolution am Anfang des 16. Jahrhunderts gilt, zum 500ten Mal. In der evangelischen Welt wird dieses Jubiläum verständlicherweise ausgiebig gefeiert; die deutschen Protestanten riefen sogar volle 10 Jahre ab 2008 vorab zur „Lutherdekade“ aus, um auf das enorme Datum hinzuleiten und veranstalten dieses Jahr republikweit ein riesenhaftes Spektakel rund um den Reformator, speziell in der „Lutherstadt“ Wittenberg. [2]

Auf der anderen Seite wurde als Antwort auf dieses Ausmaß an Verehrung von religions- und kirchenkritischer Seite ein heftiges Luther-Bashing betrieben. Sein Glaube an Teufel und Dämonen, sein Aufruf zu rücksichtsloser Gewalt gegen die aufständischen Bauern, seine Frauenfeindlichkeit und insbesondere sein scharfer Antisemitismus im Alter wurden und werden mit leidenschaftlicher Vehemenz an den Pranger gestellt und ihm derhalben insgesamt die Eignung als große Persönlichkeit und geistiges Vorbild abgesprochen. Texte, die dieser Linie folgen, sind beispielsweise Hubertus Mynareks „Ein monströser Gott“ (über Luthers Gottesbild) und „Martin Luthers Großangriff auf Philosophie und Vernunft“ (Mynarek, 2016a & 2016b), beide Ende 2016 beim Humanistischen Pressedienst (https://hpd.de) erschienen. In Buchform wären da z.B. Henkel (2017) und Wippermann (2014) zu nennen. Kritische Aktionen wie der „Nackte Luther“ begleiteten evangelische Kirchentage und Jubiläumsveranstaltungen. Auch Fernsehphilosoph Richard David Precht mag den Reformator nicht und nennt ihn einen „widerlichen Gesellen“ und „Verbrecher an der Menschheit“.[3]Weiterlesen »

Heuristics & Biases (3) — Der Mere-Exposure-Effekt und die Kritische Theorie

Das Bekannte ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.

G. W. F. Hegel (1770 – 1831)

Teil 3 der Reihe über kognitive Verzerrungen (biases) und Urteilsheuristiken behandelt eine sehr grundlegende irrationale Besonderheit der menschlichen Verstandestätigkeit, und zwar den sogenannten Mere-Exposure-Effekt. Der englische Begriff bedeutet in direkter Übersetzung soviel wie Effekt der bloßen Darbietung, sprachlich eleganter ist die Bezeichnung Vertrautheitseffekt, da auch das englische familiarity effect in der psychologischen Forschung gebräuchlich ist. Gemeint ist die recht simple Tatsache, dass uns vertraute Dinge, Personen und Ereignisse tendenziell angenehmer sind als unvertraute.

Man wird zunächst glauben, diese Behauptung sei trivial, aber seine Meinung vielleicht ändern, wenn man weiß, dass die klassischen Experimente mit sinnlosen Zeichen oder Fantasiewörtern durchgeführt wurden, zu denen die Versuchsteilnehmer keinerlei angenehme oder unangenehme Assoziationen haben konnten. Wird solch ein Zeichen oder Wort ProbandInnen innerhalb einer Reihe häufig gezeigt, so wird es in einer nachfolgenden Befragung positiver beurteilt als Zeichen oder Worte, die die ProbandInnen nur ein oder zweimal gesehen haben (Zajonc, 1968; Zajonc & Rajecki, 1969).

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Der unkontrollierte Körper ~ Der Mythos vom steuernden Gehirn ~ (Teil II)

3. Das alltägliche Erleben als Ursprung des Steuerungsparadigmas

Ich hoffe, in Teil 1 dieses Textes glaubhaft gemacht zu haben, dass die durchgängig verbreitete Folklore-Vorstellung eines „steuernden“, „kontrollierenden“ und „Befehle erteilenden“ Gehirns in den Neurowissenschaften dem sonst allgemein anerkannten naturwissenschaftlichen Bild der Welt widerspricht. Es gibt schlicht kein Prinzip der „Steuerung“ in natürlichen Zusammenhängen. Zwischen Hirn und (Rest)Körper bestehen vielfältige Interaktionen, wobei aber beide Seiten dieser Wechselwirkungen immer gleichberechtigt sind und eben nicht die Hirnareale irgendwelche Aktivitäten aus dem Nichts initiieren. Das Körpergeschehen, einschließlich der Vorgänge im Gehirn, ist ein Prozess, in den ständig das ganze Netzwerk involviert ist und das außerdem in den Kausalitätenfluss der Außenwelt eingebettet ist (siehe Abb. 2 in Teil 1).

Als Ursache für diesen bisher sowohl von der scientific community als auch von interessierten Laien seltsamerweise nicht bemerkten grundlegenden Fehler[1] hatte ich zunächst sogenannte Anthropomorphismen vermutet, die Zusammenhänge aus dem rein menschlich-kulturellen Bereich unzulässigerweise auf Naturphänomene, zu denen auch das menschliche Gehirn unzweifelhaft zu zählen ist, übertragen. Der Philosoph Ernst Topitsch hatte bei solch unsachgemäßen Transfers soziomorphe (hier: das Hirn als König der Organe bzw. als höchste Stelle einer Befehlskette) und technomorphe (hier: das Hirn als Steuerzentrale oder –modul) Fehlschlüsse unterschieden (Topitsch, 1979).

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