Niemand irrt für sich allein.
Er verbreitet seinen Unsinn auch in seiner Umgebung.
Seneca
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Meine Lieblingsgeschichte von Brechts Herrn K. ist „Vaterlandsliebe, der Haß gegen Vaterländer“ und geht so:
Herr K. hielt es nicht für nötig in einem bestimmten Land zu leben. Er sagte: „Ich kann überall hungern.“ Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte, also daß er wünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. „Wodurch“, fragte Herr K., „bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muss man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen.“
Im Deutschland der Zehnerjahre des 21ten Jahrhunderts trifft man zwar keine Offiziere aus Feindesland mehr auf der Straße. Aber ein in vielen Ländern auf dem Vormarsch befindlicher Rechtspopulismus zieht auch bei uns mit seinem aggressiven Geplärr nicht nur viele unkluge Menschen in seinen Bann, die ihrem Drang zum Mitplärren nachgeben; er droht auch seine oft deutlich intelligenteren Gegner ebenfalls dumm werden zu lassen. Was Brecht Herrn K. in dessen Selbstreflektion beschreiben lässt, kennen wir (ich meine besagte intelligenteren Gegner) – wenn auch unter anderen Umständen – aktuell vermutlich fast alle: wir sehen z.B. die rechte Meute in Clausnitz im Februar 2016 bei ihrem Brüllangriff auf einen Bus mit ein paar verängstigten Flüchtlingen (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/clausnitz-und-die-attacke-auf-fluechtlinge-jetzt-will-es-keiner-gewesen-sein-a-1078492.html) und uns packt – sofern wir halbwegs anständig und bei Trost sind – die nackte Wut. Wir wünschen uns, die rechten Schreier mitsamt all den Anwohnern, dem Bürgermeister des Ortes, der Polizei, dem Leiter des Flüchtlingsheims (der wunderbarerweise Hetze hieß, in der AfD ist, und kurz nach den Vorfällen vom Landrat „zum Schutz seiner Person“ abgesetzt wurde), die die Attacke entweder gutheißen oder verharmlosen, möchten unverzüglich vom Erdboden vertilgt werden! Das ist zunächst einmal nicht verwerflich und eine sehr natürliche Reaktion. Ich selbst hatte zuweilen die Law-and-Order-Fantasie, dass alle gewalttätig-reaktionären Dummköpfe dieser Erde auf ein noch näher zu bestimmendes, unbewohntes Südpazifik-Eiland verbannt werden sollten, wo sie zwar mit Flugzeugen und Helikoptern mit dem Lebensnotwendigsten versorgt, aber ansonsten ihrem sicherlich wenig schönen Schicksal als unbeaufsichtigte, dichtgedrängte Horde aggressiver Blödmänner überlassen werden.
Ich meine aber, wir sollten nicht dabei stehenbleiben, uns in diesem Zorn einrichten und uns mehr oder weniger wohl und überlegen dabei fühlen, sondern wir könnten wie der kluge Herr K. aufmerksam wahrnehmen, was da mit uns geschieht (das nennt man heute Achtsamkeit): die allzu menschliche Lust, all jene, die einem zuwider sind, zum Teufel zu wünschen, ihnen das Existenzrecht abzusprechen, sie verbal zu entmenschlichen, die ja eben und eigentlich so typisch ist für die Nationalisten, Rassisten und Busbrüller, hat uns tatsächlich angesteckt! Die Dummheit ihres Hasses hat uns selbst dumm gemacht. Wir hassen und verachten nur eben keine Flüchtlinge, sondern unsere besorgten Mitbürger. Und dieser Hass macht uns borniert, er beschränkt uns, er macht uns kurz gesagt: doof.
Ich will hier gar nicht moralisch argumentieren. Moralische Appelle sind letztlich immer stumpf. Tue das Gute, unterlasse das Schlechte – das ist immer zum Gähnen und so abgedroschen wie wirkungslos. Moral verändert nichts – wenn sie es täte, wäre die Welt längst eine bessere. Aber wir könnten klüger sein als unsere Gegner von rechts, wenn uns nicht unser (verständlicher) Zorn den Verstand vernebeln würde. (Intensive Emotionen vernebeln den Menschen generell den Verstand.) Folgt auf die beschränkte Wut der Rechten als Reaktion ebenfalls nur beschränkte Wut der Gegenseite, sitzen wir in einem äußerst unbefriedigenden und unfruchtbaren Patt fest, in dem keine Erkenntnisfortschritte und keine Verhaltensänderungen möglich sind. Wenn wir uns nur in den Schützengräben unserer Abscheu verschanzen, bleiben wir unter unseren intellektuellen und damit auch unter unseren menschlichen Möglichkeiten.
Wir können etwas verstehen, wenn wir die neuen Rechten, Neonazis usw. in unserem verständlichen Zorn nicht immer nur als moralisch minderwertige, durch und durch böse und verwerfliche Kreaturen ansehen, die es wie Ungeziefer zu bekämpfen gilt. Auch solche Individuen haben eine Geschichte, und es gibt immer auch Gründe, warum sie geworden sind, was sie sind.
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Neulich sah ich eine Doku über deutsche Rechtsradikale im Fernsehen. Zu sehen waren u.a. zwei ganz junge Neonazis, wohl kaum volljährig, die in einschlägigem Jargon mächtig vom Leder zogen. Nach der automatischen initialen Abscheu hatte ich einen lichten Moment: Ich hatte mit einem Mal vage vor Augen, wie die beiden Glatzen wohl zu dem geworden waren, was sie heute sind; wie sie von ihren lieblosen Eltern halb tot geschlagen, wie sie vernachlässigt, gedemütigt, missbraucht wurden, oder was sonst zu so einem Nazischicksal gehören mag. Wie ihnen viel zu wenig Bildung und Unterstützung zuteil wurde, die ihnen hätten helfen können, besser zu verstehen, was in der Welt vor sich geht. Und wie die kleinen Kinder, die sie einmal waren, nur einen Weg wussten (und wissen konnten), es in dieser Hölle ihrer Welt auszuhalten, nämlich selbst hart und rücksichtslos zu werden, selbst zuzuschlagen, bevor es der andere tut, nicht wissend wohin mit all dem Hass. Und als ich die beiden auf diese Weise sehen konnte, da war ich auf einmal nicht mehr wütend und fühlte keine Verachtung mehr. Man wird nicht aus freiem und bösartigem Beschluss Neonazi, auch wenn es das ist, was uns unsere Gefühle gegenüber solchen Menschen suggerieren.
Nun will ich nicht behaupten, dass ich seit diesen Gedanken alle Rechtsradikalen in mein Herz geschlossen hätte. Aber das muss ja vermutlich auch nicht sein; die ganz normale Wut und Geringschätzung der Rassisten und Nationalisten ist weiterhin Teil meines Gefühlsrepertoires. Aber mir ist klarer geworden, dass wir, wenn wir dem Traum des Herrn K., nämlich einer Welt ohne Dummheit, näher kommen wollen, nicht immer nur auf die anderen, die so ganz offensichtlich dummen Rechten, zeigen dürfen, sondern dass wir stets auch die Beschränktheit in uns selbst wahrnehmen sollten – nicht zuletzt erkennt man dabei, wie tief verwurzelt manche Torheiten (z.B. eben die, auf Hass automatisch mit Hass zu reagieren) in uns Menschen sind und wie schwer es ist, sie zu überwinden.
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Man verstehe mich aber nicht falsch: Ich plädiere nicht für einen Kuschelkurs oder allgemeine Nachsichtigkeit gegenüber Neonazis. Ganz im Gegenteil. Man darf Humanität nicht mit Schwäche und Schlappheit verwechseln (Fritz Bauer). Wenn das rechtsnationale Gerede zur Hetze und der dumme Gedanke zur arglistigen Tat wird, muss man schnell, wirksam und entschlossen eingreifen und dies unterbinden. Dies geschieht m.E. längst nicht in dem Maße, das nötig wäre.
Gerade im Osten Deutschlands scheint es ja ganze Landstriche zu geben, in denen das Treiben der faschistischen Gruppen nahezu widerstandslos geduldet wird, so als gebe es in unserem Land rechtsfreie Räume. Nazis begehen doch bei ihrem ganz normalen alltäglichen Treiben ständig Straftaten (Bedrohung, Nötigung, Beleidigung, Volksverhetzung, Sachbeschädigung etc.), die offenbar auch und gerade von der ostdeutschen Polizei weitestgehend geduldet werden, wenn man den Medienberichten Glauben schenken darf. Wo waren denn z.B. in Clausnitz beim Zusammenschreien der Flüchtlinge im Bus die Polizeibeamten, die dem Mob Platzverweis erteilten und ein Strafverfahren wegen Nötigung eingeleitet haben? Weder das eine noch das andere ist geschehen, so weit ich weiß. Ein Skandal, der, so ist zu befürchten, täglich überall in der Republik – und gerade auch im Osten – vorkommt. Die Rechten bestimmen mancherorts wohl schon so die öffentliche Atmosphäre, dass die staatliche Ordnungsmacht sich nicht mehr traut, dazwischen zu gehen. Und / oder die Polizisten sind selbst Rechte, wofür es auch immer wieder Indizien gibt. Eine sehr gefährliche Entwicklung.
Natürlich haben es Polizei und Justiz angesichts der jahrelangen Ausdünnung ihres Personals im Rahmen der vermaledeiten „Spar“politik auch sehr schwer. Eine Null-Toleranz-Politik gegenüber den aggressiven Rechten, die eigentlich nötig wäre, könnte der Rechtsstaat mit seiner jetzigen personellen Ausstattung vermutlich garnicht fahren. Überhaupt ist – das soll hier nicht unerwähnt bleiben – die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung in den westlichen kapitalistischen Demokratien neben dem persönlichen Lebenshintergrund der einzelnen Akteure ganz sicher ein weiterer wichtiger Faktor bei der gegenwärtigen Wiederauferstehung von rechtskonservativen oder faschistischen Grundhaltungen bei vielen Menschen. Es dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass der Rechtsruck in Europa nicht zuletzt Ergebnis von 35 Jahren Neoliberalismus ist, jener Politik, durch die systematisch Unmengen von Geld von unten nach oben und aus den Gemeinschaftskassen (also den öffentlichen Haushalten) auf die Privatkonten der Wohlhabenden transferiert wurden und werden. Die ständige Aushöhlung des Sozial- und Bildungssystems hat die erwartbaren Folgen gehabt. Würde es in der sogenannten westlichen Welt einigermaßen sozial gerecht zugehen, hätte es der Rechtspopulismus ganz gewiss viel schwerer. Aggressive Politik macht aggressive Menschen. Natürlich leistet auch die rund um die Uhr schnurrende Verblödungsmaschinerie aus BILD-Zeitung, Privatfernsehen und Reklame ganze Arbeit, in dem sie immer das Dumpfe, Derbe und Unreife in den Menschen anspricht und fördert. Zu diesen Themenkomplexen ließe sich natürlich noch so manches sagen, was den Rahmen dieses kleinen Aufsatzes aber sprengen würde.
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Humanität und Entschlossenheit müssten also die beiden Mittel der Wahl bei der Behandlung der wieder aufwallenden epidemischen Dummheit des neuen rückwärtsgewandten Autoritarismus, des sogenannten Rechtspopulismus, sein. Von beidem scheint mir auf Seiten der Verteidiger der liberalen und pluralistischen Gesellschaft häufig zu wenig vorhanden zu sein. Zu oft erschöpft sich die Reaktion auf die Rechten in Spott und Verächtlichkeit oder gerinnt zu inhaltsarmen Floskeln politischer Correctness, zu selten werden die braunen Brandstifter tatsächlich an ihrem Treiben gehindert.
Falsch wäre es aber, sich auf ein weiteres Anheizen der politischen Auseinandersetzung im Sinne eines verbalen oder gar physischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ einzulassen. Auf dem Gebiet der hasserfüllten Sprache und der hasserfüllten Aktion sind die Faschisten und ihre rechtskonservativen Helfer letztlich wg. fehlender Skrupel und Selbstzweifel immer im Vorteil – es ist einfach ihr Metier. Auch aus diesem Grunde ist es ratsam, dem Rechtspopulismus gegenüber möglichst besonnen und sachlich zu bleiben. Aber eben auch hartnäckig und tatkräftig. Denn sonst droht sich die hochinfektiöse Dummheit zu einer politischen Epidemie auszuweiten, und am Ende ist die ganze politische Auseinandersetzung nur noch von Aggression und Gewalttätigkeit bestimmt – man hat die Gefährlichkeit einer solchen Erkrankung großer Teile der Gesellschaft ja nicht zuletzt bei uns in Deutschland Anfang der 1930er Jahre drastisch vor Augen geführt bekommen. Und am Ende gewinnen in solch einem Klima immer die Rechten.
Darüber, was man an – sicher notwendigen – politischen Programmen auf den Weg bringen könnte, um eine Übernahme der Macht durch antidemokratische Kräfte wie in der Türkei, Russland, Ungarn oder Polen zu verhindern, wird es hier gegebenenfalls irgendwann einmal einen eigenen Text geben.
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Die Dummheit ausrotten – das ist der große Traum des Herrn K. Ob er sich jemals vollständig wird verwirklichen lassen? Man kann es mit guten Gründen bezweifeln. Vermutlich werden wir uns vorerst mit der Eindämmung der schlimmsten und aggressivsten Ausbrüche dieser Volkskrankheit begnügen müssen. Anfangen können wir damit praktischerweise bei uns selbst.
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PS., kurz nach Fertigstellung des Textes: Im halbfaschistischen Ungarn bekennen sich wieder mehr und mehr der eigentlich sehr säkularen jungen ungarischen Juden zu einer orthodoxen jüdischen Identität. Von der törichten Macherin der TV-Doku, die darüber informierte, wird dies ausdrücklich als „bestes Mittel gegen die rechte Politik der Regierung“ gelobt. Seufzend erkennt man einmal mehr, wie recht Brecht doch hatte: Die Dummheit macht dumm, die ihr begegnen.
Literatur
Brecht, B. (2004). Geschichten vom Herrn Keuner. Zürcher Fassung. (Hrsg. Erdmut Wizisla) Frankfurt am Main: Suhrkamp.
© Matthias Wehrstedt 2016