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Hier noch ein Postscriptum zum Artikel „Herr K. und die neuen Rechten“. Der aktuellste Text der US-amerikanischen Wissenschaftsseite www.edge.org handelt wie auch mein Text von dem sozialen Ansteckungseffekt, dem Menschen unterliegen. Die Yale-Psychologie-Professorin Laurie R. Santos berichtet in ihrem Beitrag „Glitches“ (= Pannen, Störungen) wie psychologische Forscher in den letzten Jahren klarer herausgearbeitet haben, dass Menschen auch im kognitiven und moralischen Bereich unbewusst von schlechten Problemlösungen – mit anderen Worten: von der Dummheit – anderer Menschen negativ beeinflusst werden (in meinem Beitrag ging es ja eher um einen emotionalen Ansteckungseffekt). Santos arbeitet dabei interessanterweise mit Tieren (Rhesusaffen und Hunden), um über die Tier-Mensch-Unterschiede die Funktionsweise der menschlichen Kognition besser zu verstehen. Der recht lange Artikel, der aber in einigermaßen leichtem Englisch geschrieben ist, ist sehr lesenswert; wer es lieber audiovisuell mag: es gibt den Text auch als Video — beides unter: https://www.edge.org/conversation/laurie_r_santos-glitches . Für alle, die nicht soviel Zeit haben, hier eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Punkte:
Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Tieren und Menschen im kognitiven Bereich besteht darin, dass Menschen etwas können, was man Perspektivenübernahme nennt. Es ist die Fähigkeit, sich in einen Anderen hineinzuversetzen und die Welt aus seinem Blickwinkel zu betrachten. Santos weist nun darauf hin, dass diese Fähigkeit auch eine Schattenseite hat: Wenn wir sehen, wie andere Leute unkluge Dinge tun, falsche Entscheidungen treffen oder unrichtige Urteile fällen, so werden wir durch unsere automatisch ablaufende Übernahme der Perspektive dieses Anderen in unserer eigenen Fähigkeit beeinträchtigt, klug zu handeln und richtig zu entscheiden und zu urteilen. Der Effekt, den man im Englischen perspective contagion (Perspektiv“ansteckung“) oder over-imitation nennt, ist klar nachgewiesen: Menschen, die ein Problem lösen sollen und zuvor jemanden gesehen haben, der das Problem schlecht oder falsch angeht, schneiden bei der jeweiligen Aufgabe schlechter ab als solche, die kein „Vorbild“ hatten oder jemanden dabei beobachteten, wie er die Aufgabe richtig löst. Schon bei kleinen Kindern kann man diese Wirkungen beobachten.
Nicht so bei Tieren! Weder bei Rhesusaffen, mit denen Santos und ihre StudentInnen arbeiten, noch bei Schimpansen konnte ein Perspektivansteckungs-Effekt beobachtet werden. Sehen Affen einen anderen Affen (oder auch einen Menschen), der bei einer einfachen Aufgabe Unsinn produziert, so lassen sie sich nicht davon beirren, sondern erbringen genauso gute Leistungen wie Artgenossen, die positive oder keine Vorbilder beobachteten. Dies ist sicher so, weil die Affen einfach nicht die typisch menschliche Fähigkeit besitzen, sich in andere hineinzuversetzen. Santos glaubte aber, dass dies bei Hunden anders sein sollte. Hunde sind über Jahrtausende dahin gezüchtet, mit dem Menschen kooperativ zusammen zu leben, sie sind durchgehend aufmerksam darauf, was ihr Besitzer tut oder nicht tut und sie scheinen ihrem Herrchen oder Frauchen jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Also sollten sie auch durch Fehler, die andere (Hunde oder Menschen) machen, eher beeinflussbar sein als Affen, die keine evolutionäre Geschichte des Zusammenlebens mit dem Menschen haben. Aber die Forschergruppe hatte sich geirrt: Hunde zeigten in ihren Experimenten genauso wenig Ansteckung durch die Dummheit schlechter Vorbilder wie auch Rhesusaffen und Schimpansen. Zur Kontrolle verglich man sie auch noch mit australischen Dingos, also „wild“ gebliebenen Hundeartigen: es gab keinen Unterschied. Hunde und Dingos sind – wie schon die Affen – immun gegen die kognitive Dummheitsinfektion; man könnte auch sagen, sie haben eine größere Fähigkeit, „bei sich selbst“ zu bleiben und „ihr Ding“ zu machen, unabhängig davon, was andere tun oder lassen – zumindest gilt dies im kognitiven Bereich.
Im moralischen Bereich kennt die Sozialpsychologie diese Phänomene schon etwas länger. Cialdini und Kollegen untersuchten Anfang der 1990er Jahre den Effekt unterschiedlicher Verbotsschilder im Petrified Forest National Park in Arizona. In diesen versteinerten Wäldern aus früheren Erdaltern, die ein großer Touristenmagnet sind, kommt es leider sehr häufig zu Diebstahl; Besucher lassen oft kleinere Bruchstücke der zu Stein gewordenen Baumstämme als Andenken mitgehen. Cialdini et al. konnten nun zeigen, dass bei Verwendung von Schildern mit Aufschriften der Art „Viele Menschen stehlen hier Teile des versteinerten Waldes. Bitte tun Sie das nicht.“ deutlich mehr Steine entwendet wurden, als wenn es hieß „Den Besuchern des Petrified Forests ist klar, dass wir diese Stätte erhalten müssen. Bitte nehmen sie keine Steine mit“. Allein die Erwähnung des moralisch verwerflichen Verhaltens auf dem ersten Schild reichte aus, Menschen zum Stehlen zu animieren (vielen Besuchern kam dadurch vermutlich überhaupt erst die Möglichkeit in den Sinn, dass man ja Souvernirs mit nach Hause nehmen könnte). Andererseits führte das Unterstreichen des moralisch Richtigen und die Feststellung, dass die anderen Besucher des Parks um den großen Wert der Naturstätte wüssten – also eine ethisch hochwertige Einstellung hätten – im zweiten Fall zu Nachahmungseffekten der positiven Sorte.
Wie man sieht, ist die menschliche Cleverness, die sich eben u.a. in der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ausdrückt, nicht immer nur von Vorteil. Tiere sind gewissermaßen aufgrund ihrer Unbedarftheit und mangelnden Begabung für raffiniertes Denken in manchen Situationen klüger als Menschen. Sie sind weitgehend immun gegen die ansteckende Epidemie der Dummheit, die offensichtlich eben auch etwas typisch Menschliches ist. Menschen, und das wissen wir ja auch sehr gut aus der alltäglichen Erfahrung, sind dagegen sehr empfänglich für das, was die Anderen machen, auch wenn es unsinnig ist – manchmal sogar dann, wenn das, was „die Leute“ tun, wie z.B. im „Dritten Reich“ wahnwitzig, grausam und selbstzerstörerisch ist. Am Ende könnte diese gräßliche kognitive Infektionskrankheit sogar den Fortbestand der vordergründig so immens erfolgreichen Spezies „Homo sapiens“ auf diesem Planeten gefährden.
Aber man kann die hier beschriebenen Erkenntnisse glücklicherweise auch ins Positive wenden: So wie das Schlechte und Schädliche, so hat auch das Intelligente und Anständige die Tendenz, sich unter Menschen zu verbreiten und ansteckend zu wirken. Das Hauptausbreitungsfeld für diese sogenannte Meme – gute wie schlechte – ist heute das Internet. In der modernen Zeit digitaler Kommunikation, in der sich – wie wir gesehen haben sehr zu Recht – viele wegen der Wirkungen von Trollen, Verschwörungstheorien und Hassposts Sorgen machen, kann das also heißen, dass man solchem Unsinn, so man auf ihn stößt, ruhig öfter einmal etwas Stimmiges und Richtiges entgegen setzen dürfte. Zur Eindämmung der interaktiven Dummheit beizutragen ist übrigens auch nicht so schwer: Bei Facebook sind es nur ein paar Klicks, um einen Hasspost zu melden. Natürlich machen die Sozialen Medien bisher viel zu wenig gegen den Tsumani der Torheiten, der tagtäglich durch das Netz rollt. Jede Meldung eines „unangemessenen“ Beitrags erhöht aber den Druck auf die Betreiber der Seiten. Und im Alltag kann man dem Arbeitskollegen, der über Flüchtlinge herzieht, auch einmal mutig und mit Nachdruck widersprechen, anstatt seinen Quatsch aus Konfliktscheu unkommentiert stehen zu lassen.
Damit aber genug der moralischen Empfehlungen. Einen schönen Tag Euch allen dort draußen an den Bildschirmen und Displays!
© Matthias Wehrstedt 2016
So etwas nennt man wohl auch Lernen am Modell. Das könnte einen Teil der Erklärung sein, warum es in letzter Zeit in Deutschland zu einer solchen massiven Radikalisierung kommen konnte. Es sind ja nicht alles persönlichkeitsgestörte Nazischläger die auf der Straße und im Netz herumgrölen, sondern auch Leute die wohl allgemein als Normalbürger durchgehen würde wenn sie sich nur etwas gemäßigter( wobei gemäßigt eigentlich nur heißt weniger menschenverachtend) ausdrücken würden.
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Klar hat die beschriebene „Ansteckung“ viel mit Modelllernen zu tun. In einer Zeit, in der vermehrt irrationale und aggressive „Meme“ in der Luft liegen, werden auch Leute, die von Hause aus nicht Hardcore-Nazis sind, mit deren gefährlichen Gedanken und Gefühlen infiziert. Zum Thema Radikalisierung lief vor ein paar Tagen übrigens ein sehr guter (und beklemmender) Spielfilm im TV, der von Beate Zschäpe und der Anfangszeit des NSU handelt: „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ mit Anna Maria Mühe in der Hauptrolle. Sehr anschaulich und nachvollziehbar wird da meiner Meinung nach der emotionale Weg in die antisoziale Welt der Nazis geschildert. Sehr sehenswert.
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