Die Deutschtürken und das Verfassungsreferendum

Ich war ja zunächst auch schockiert und verärgert: 63 % der deutschen Türken stimmten beim Verfassungsreferendum für die Weiterführung von Erdogans Kurs Richtung Diktatur! In der Tat gruselig und absolut unverständlich. Und entsprechend tönt es jetzt auch vielerorts aus rechten wie auch aus religionskritischen Kreisen (bspw. Hamed Abdel-Samad auf Facebook), dass die Deutschtürken* nicht integrierbar seien, in die Türkei ausgewiesen gehörten, für den Weg zurück in die Steinzeit gestimmt hätten etc. etc. Wenn man sich die genauen Zahlen zur türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland und zur Anzahl der Wahlberechtigten ansieht, relativiert sich das Bild aber doch sehr.

Rund 3,0 Mio. Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben derzeit etwa in Deutschland. Davon von waren mehr als die Hälfte, nämlich etwa 1,6 Mio., nicht wahlberechtigt (weil sie keine türkischen Staatsangehörigkeit haben und / oder minderjährig sind). Von den knapp 1,4 Mio. Wahlberechtigten gingen in Deutschland nicht einmal die Hälfte an die Urnen, nämlich nur etwa 642.000 (ca. 46 % Wahlbeteiligung). Und von diesen stimmten ca. 63 % mit „Ja“. Ein Diagramm macht das Ganze anschaulich:

Deutschtuerken und das Verfassungsreferendum 2017_Langsames-Denken.net_2017-04-18

Es wird sehr deutlich, dass die Aussage „Die Deutschtürken sind in ihrer Mehrheit für die Verfassungsänderung (bzw. pro Erdogan)“ angesichts der Zahlen zur Wahl nicht gerechtfertigt ist. Lediglich knapp 14 %, also nicht einmal jeder Siebte der Deutschtürken, stimmte für Erdogans Weg in die Ein-Mann- bzw. Ein-Parteien-Herrschaft.

Natürlich weiß man nicht, wieviele der Nichtwähler und Nicht-Wahlberechtigten trotzdem mit Erdogan und der AKP sympathisieren. Immerhin kann man annehmen, dass diejenigen Deutschtürken, die nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzen — also etwa die Hälfte aller hier lebenden Menschen mit türkischem Hintergrund — wahrscheinlich zu den eher „westlich orientierten“ ihrer Gruppe gehören und vermutlich in geringerem Umfang als die Wahlberechtigten Erdogan-Anhänger sind. Aber das bleibt natürlich Spekulation.

Ich fand es allerdings wieder einmal verblüffend, wie sehr sich das anfängliche, empörte „Nicht zu fassen, das sind doch alles Vollidioten“ bei genauerer Betrachtung und Überlegung in ein „Oh, das tatsächliche Bild ist ja viel differenzierter und weit davon entfernt, klar zu sein“ verwandelt hat.

Zahlen aus der wikipedia, vom Statistischen Bundesamt und aus dem Tagesspiegel.

 

*Ich benutze hier vereinfachend den Begriff „Deutschtürken“ für die türkischstämmige „Community“ in Deutschland (unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Ausmaß der „Integration“), da diese sowohl von außen als zusammengehörige Gruppe wahrgenommen wird und sich wohl selbst auch meist als solche sieht.


© Matthias Wehrstedt 2017

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