So oder ähnlich müssten Tag für Tag die Schlagzeilen lauten, wenn Bevölkerung und Medien nur halbwegs Realitätssinn hätten. Jeden Abend „Brennpunkte“ und „ZDF Spezials“ zu Hauf, die jüngst in Mode gekommenen Nachrichtenticker vermelden alle paar Minuten neue Schwerverletzte und alle paar Stunden neue Todesopfer, Reporter berichten ständig live von den Schauplätzen der schlimmsten Unfälle des Tages, „Experten“ erläutern den Hergang der jüngsten Unglücke auf Deutschlands Straßen, die Polizei informiert rund um die Uhr, der Verkehrsminister kommt vor lauter Interviewanfragen kaum zum Regieren, die Opposition fordert endlich Konsequenzen, das ganze Land ist in einem durchgängigen Schockzustand.
Ja, denn im deutschen Straßenverkehr sind auch im gerade abgelaufenen Jahr wieder mehr als 3000 Menschen umgekommen, der ADAC schätzt die Zahl für 2016 vorläufig auf 3280 [1]. 3280 Tote, das bedeutet ziemlich genau 9 Tote Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Alle 32 Stunden kommt so die Zahl der Opfer des Berliner LKW-Anschlags vom Dezember 2016, des ersten islamistischen Anschlags in Deutschland, der einheimische Todesopfer forderte, zusammen. Mit tödlicher Präzision addieren sich die Opfer Woche für Woche – diese Woche etwa 60, nächste Woche wieder 60, darauf die Woche wieder und immer so weiter [2]. Allein: es interessiert niemanden.
Was würde passieren, kämen im Schienenverkehr jährlich 3300 Menschen zu Tode – alle 11 Tage ein Superunglück wie 1998 bei Eschede, als 101 Passagiere den Tod fanden, und das jahrein, jahraus? Der gesamte Zugverkehr in Deutschland würde nach spätestens 3 Monaten komplett eingestellt, alles müßte auf den Prüfstand, kein Stein würde auf dem anderen gelassen, bis alle Ursachen für die Unfälle völlig geklärt wären und man umfassend Abhilfe geschaffen hätte. Beim Autoverkehr völlig undenkbar – wer so etwas forderte, würde für wahnsinnig erklärt. Warum eigentlich?
Und wenn wir uns vorstellen, das es jährlich 3300 Tote bei Anschlägen wie dem von Berlin gäbe, wir hätten eine Massenhysterie nie dagewesenen Ausmaßes, die (rechte) Revolution bräche aus, alle wären vor Angst wie gelähmt! Angesichts derselben Zahl von Opfern im Straßenverkehr: Achselzucken – die Bekanntgabe der Statistik erfolgt in einem kleinen Artikel unter „Vermischtes“ und erzeugt bei niemandem große Emotionen. Seltsam, wie unglaublich unterschiedlich die Maßstäbe hier sind.
Sicher, viele LeserInnen werden hier zu Recht einwenden, dass man Opfer von Anschlägen und Opfer von Unfällen nicht so ohne weiteres gleichsetzen kann; die einen werden gezielt und vorsätzlich getötet, die anderen kommen (meistens) durch Fahrlässigkeit ums Leben. Und trotzdem: Wenn man sagt, dass 1 Anschlagstoter wie 10 Verkehrsunfalltote zählt, dann hätten wir in Deutschland 2016 immer noch das Äquivalent zu 328 Anschlagstoten zu beklagen. Und in den Jahren davor sogar noch mehr. Ganz zu schweigen von den Zehntausenden Schwerverletzten (Jahr für Jahr), die oft ein Leben lang an körperlichen oder psychischen Folgeschäden durch Autounfälle zu tragen haben. Gar kein Grund für Trauer und Wut?
Gut ein Drittel der Verkehrstoten geht auf das Konto von überhöhter Geschwindigkeit [3], somit also etwa 1100 im letzten Jahr. Dabei liegen die Limits in Deutschland sowieso schon so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land. Zwar gilt fast überall innerorts 50 km/h als Maximalgeschwindigkeit, aber außerorts (auf Landstraßen) darf man nur noch in Österreich 100 km/h schnell sein, sonst gelten überall niedrigere Grenzen: 90 km/h z.B. in Frankreich und Italien, 80 km/h u.a. in Dänemark, Holland und der Schweiz, und in Schweden darf man auf Landstraßen tatsächlich nur 70 km/h fahren! Und dass es auf deutschen Autobahnen weiterhin völlig legal ist, auch mit 250, 300, 350 oder sogar noch schneller zu rasen, wenn einem danach ist und man eine entsprechend monströse Transportmaschine besitzt, das ist ein Irrwitz, für den Worte zu finden einem wirklich nicht leicht fällt.
Wie kann es sein, dass eine so hohe Zahl von Menschen, viele von ihnen schuldlos, kontinuierlich durch zu schnelles Fahren ihr Leben verlieren? Könnte man nicht wenigstens sie relativ einfach retten, indem man die bestehenden Geschwindigkeitsbeschränkungen auch konsequent durchsetzt? Jeder weiß es doch aus dem Alltag: innerorts wird bei freier Strecke meistens 60 bis 70 gefahren, auf Landes- und Bundesstraßen regelmäßig 110 oder 120 oder noch schneller, wer in einer Tempo-30-Zone wirklich 30 fährt, wird als Verkehrshindernis empfunden und angehupt. Ausreichend Abstand zum Vorausfahrenden wird fast nie eingehalten. All diese Vergehen gelten den Autofahrern als Kavaliersdelikte, als die alltäglichen kleinen Schwindeleien, die sich schließlich alle anderen auch erlauben. Leider ist es aber so, dass mit dem Ausmaß dieser Schwindeleien die Gefahr für Leib und Leben exponentiell ansteigt. Das möchte man sich aber nur ungern klarmachen, weshalb man es dann ja auch unterlässt.
Der Staat, der ja nun eigentlich größtes Interesse an der Rettung der genannten 1100 Leben (die zusätzlichen Zehntausenden Verletzten behalte die LeserIn immer im Hinterkopf) haben müsste, schaut auch lieber nicht so genau hin. Wieviele Tempoverstöße werden schon geahndet? Es blitzt vielleicht 1 bis 2 mal pro 100 Geschwindigkeitsüberschreitungen, alle anderen 98 oder 99 Mal bleiben die Fahrer unbehelligt. Dazu kann man sich bekanntlich im Radio und im Internet informieren, wo gerade „geblitzt“ wird – ein Unding [4]. Die Bußgelder für Geschwindigkeitsverstöße sind im europäischen Vergleich sehr niedrig. Und obendrein gibt es für die KfZler noch zwei großzügige Boni: 1) 3 km/h Messtoleranz, 2) eine generelle Zusatztoleranz von 5 km/h, die aus „Praktikabilitätsgründen“ in Deutschland allen motorisierten Fahrern auch noch ohne Not eingeräumt wird [5]. Die tatsächlich erlaubten Höchstgeschwindigkeiten betragen in Deutschland somit 38, 58 und 108 km/h. Jeder Unfallforscher sagt einem, dass diese De-facto-Limits viel zu hoch sind.
Allen diesen unverständlichen Großzügigkeiten zum Trotz krakeelt der durchschnittliche Autofahrer in wahnhafter Verkennung der Realität sofort „Abzocke!“, wenn denn doch ausnahmsweise einmal ein Bußgeld ob seines lebensgefährlichen Treibens fällig wird. Beim Thema Auto wird meines Erachtens wie bei kaum einem anderen die Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit großer Teile des modernen kapitalistischen Kollektivs, der Drang, sich verantwortungsfrei auf Kosten der anderen durchzusetzen und breitzumachen und die irrationale Wut, die aufschäumt, wenn man Mäßigung und Zügelung einfordert, sichtbar.
Von den weiteren negativen Folgen der exzessiven Nutzung von Kraftfahrzeugen, der Verlärmung von Stadt und Landschaft, der Vergiftung der Atemluft, dem umfangreichen Beitrag zum menschengemachten Treibhauseffekt, dem ausufernden Flächenverbrauch, der Minderung der Lebensqualität besonders in Städten, der Entwertung großer Teile des Immobilienbestandes, der Tötung einer Viertelmillion Wildtiere (darunter natürlich auch seltene und geschützte) pro Jahr, den immensen Schäden, die die Ölindustrie weltweit anrichtet, usw., sei an dieser Stelle garnicht ausführlicher gesprochen. Und es werden trotz verstopfter Straßen Jahr für Jahr immer noch mehr Autos [6], es können offenbar nie zu viele sein. Und so ist es ja auch von oben gewünscht.
Der Anschlagstod von 12 Menschen in Berlin wird von vorn und hinten, von oben und unten, von innen und außen hunderte Male beleuchtet. Sofort werden wie selbstverständlich Gesetzesverschärfungen auf den Weg gebracht. Der kontinuierliche Tod von Tausenden anderen im Verkehr und die mit dem entgrenzten Verkehr einhergehende (Um)Weltzerstörung ist dagegen nur Hintergrundrauschen.
Die größten Skandale sind immer die, über die niemand spricht.
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[1] Die allermeisten Toten dürften bei Unfällen mit Auto-Beteiligung ums Leben gekommen sein.
[2] Es soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass Deutschland 2016 die geringste Zahl an Verkehrstoten nach dem Krieg aufwies und auch im europäischen (und weltweiten) Vergleich – z.B. bei der Anzahl Verkehrtoter pro 100.000 Einw. – gut dasteht. Trotzdem bleiben 3300 Tote 3300 Tote.
[3] siehe z.B. hier: http://www.auto-service.de/news/83224-unfallstatistik-2015-zahl-unfaelle-toten-gestiegen.html
[4] Man stelle sich vor, Einbrecher würden im voraus darüber unterrichtet, wo die Polizei derzeit Streife fährt. Und bei Einbrüchen kommen nicht wie beim Zu-Schnell-Fahren regelmäßig Menschen ums Leben!
[5] U.a. weil man bei den Behörden fürchtet, sonst wg. der Ungenauigkeit der Tachos von den KfZ-Führern mit Klagen überzogen zu werden; siehe dazu einen Artikel von Stefan Lieb: „7 km/h = 15 km/h ?“ in: mobilogisch!, 4 / 2015, S. 9
[6] siehe z.B. http://propagandamanufaktur.de/wp-content/uploads/2015/06/Kraftfahrzeuge-in-Deutschland-PKW-1955-20151.png
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© Matthias Wehrstedt 2017
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