„Experiencing is believing“ – Die neuen Rechten im Lichte von Dual-Process-Theorien

It’s so easy to love it’s so easy to hate
it takes guts to be gentle and kind
The Smiths / Morrissey: I know it’s over (1986)

Dass der momentan weltweit stattfindende Rechtsruck weniger mit politischem Diskurs im herkömmlichen Sinne als vielmehr mit dem (Wieder)Erwachen grundlegender und archaischer emotionaler Bedürfnisse in großen Teilen der modernen Gesellschaften zu tun hat, wurde schon von verschiedenen Seiten festgestellt. Eines der elementarsten dieser Bedürfnisse könnte man grob mit der Überschrift „Fühlen statt Denken“ versehen. Etwas präziser müsste es wohl heißen „Schlichtes, müheloses und direktes Fühlen statt anstrengendem, differenziertem Denken“. Die unmittelbare, direkte Empfindung, die sich ohne zergliederndes und sorgsames Abwägen aller Aspekte einer Fragestellung einstellt, soll die neue Leitlinie sein, sowohl bei der Erklärung der Welt als auch bei moralisch-ethischen Fragen. Die Wirklichkeit – so insgeheim das Credo der Fans von Trump und Konsorten – möge doch bitte so einfach beschaffen sein, dass man sagen kann „Ich fühle, dass es wahr ist, also ist es wahr“. Und ihre innere Wirklichkeit, die ist tatsächlich so einfach beschaffen.

Der typische Rechtspopulist mag keine Homosexuellen. Er stellt sich Männer vor, die miteinander Sex haben, und davor ekelt er sich. Da sich homosexueller Sex für ihn eklig und falsch anfühlt, ist er auch eklig und falsch. In den Leitmedien wird ein humanistischer Grundkonsens vertreten, von dem er spürt, dass dessen moralisches Niveau zu hoch für ihn ist; darin liegt eine fortlaufende Kränkung. Nicht aber er sollte sich deshalb verändern, so meint er, sondern die Medien sollten sich seinem Level anpassen. Es fühlt sich gut an, zu einem imaginären Wesen zu beten, es geht ihm dann besser und er fühlt sich ein wenig getröstet? Dann muss es dieses Wesen doch auch wirklich geben! Experiencing is believing, wie der Psychologe Seymour Epstein es ausdrückte.[1]

Dieses Herangehen an die Wirklichkeit ist so wunderbar einfach, so erleichternd. „Kommt her zu mir, ihr schlichten Gemüter“, rufen die neuen rechten DemagogInnen ihrem Publikum zu, „die ihr von der Aufklärung (und ihren moralischen Anforderungen, die ihr doch nie erfüllen könnt) bedrückt und geknechtet seid, unser Joch ist sanft, unsere Last ist leicht, wir wollen Euch erquicken, denn den geistig und moralisch Armen soll jetzt der Erdkreis gehören![2] Ihr fühlt, dass es wahr ist – also ist es wahr! Ihr wünscht Euch, dass etwas real ist – also ist es real!“ Dass der moderne Rechtspopulismus als Erlösung und Befreiung, als ein Sprengen von unsichtbaren Ketten empfunden wird, verleiht dieser Bewegung viel von ihrer erschreckenden Wucht.

~ ~ ~

In der Psychologie existieren seit einigen Jahrzehnten diverse sogenannte Dual-Process Theorien, die zwei grundlegend verschiedene Systeme der kognitiven Verarbeitung unterscheiden. System 1 arbeitet demnach assoziativ und automatisch, nahezu mühelos, ist eher am Gefühl orientiert und mit eher vagem und unkritischem Denken verbunden, wohingegen System 2 logisch, regelbasiert und kritisch ist und seine Aktivierung willentliche Anstrengung und Kontrolle erfordert. System 1 läuft pausenlos, System 2 wird nur zeitweise als korrigierende Instanz „zugeschaltet“. (Auf der Bezeichnung von System 2 als Langsames Denken – im Gegensatz zum Schnellen Denken von System 1, die auf den israelisch-amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman zurückgeht, basiert im Übrigen der Name dieser Webseite [Kahneman, 2014].[3])

Traditionellerweise war das menschliche Denken über Jahrtausende weitgehend von System 1 bestimmt; System 2 kam hauptsächlich auf Gebieten zum Einsatz, die mit praktischen, technisch-funktionalen Problemen zu tun hatten (also z.B. Bau von Jagd- und Kriegswaffen, Werkzeugen etc.). Obwohl es in der Antike schon erste Ansätze gab, die System-2-Grundsätze auch auf allgemeine, politische, ethische und weltanschauliche Fragen auszudehnen, entwickelte sich erst mit der Bewegung der Aufklärung ab dem 16. Jahrhundert in Europa auf breiter Front das Bestreben, alle althergebrachten Anschauungen gewissermaßen auf den Prüfstand von System 2 zu stellen und sämtliche Bereiche des menschlichen Denkens den Grundsätzen von Logik, Widerspruchsfreiheit, Systematik, Differenziertheit und Skepsis (die eben typische Eigenschaften von System 2 sind) zu unterwerfen.

Wie wenig kritisch und rational das ursprüngliche Denken des Menschen in ferneren Vergangenheiten, dieses Denken nur mit System 1, nach unseren heutigen Massstäben gewesen ist, beginnt man zu ahnen, wenn man sich beispielsweise den Sinn und Zweck der sogenannten Terrakotta-Armee im Grabbezirk des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi vor Augen führt. Diese Armee sollte den großen Herrscher im Jenseits beschützen, was nichts anderes heißt, als dass man tatsächlich glaubte, die bis ins Detail der Realität nachgebildeten Tonsoldaten würden sich nach dem Tod des Reichseinigers Qin in lebendige Krieger verwandeln. Das Abbild gleicht dem Abgebildeten – wenn etwas exakt aussieht wie ein chinesischer Soldat des 3. Jahrhunderts v. Chr., dann ist es in gewisser Weise tatsächlich ein solcher. Beurteilung der Verwandtschaft zweier Objekte nur aufgrund der rein äußerlichen Ähnlichkeit: man hat es hier kognitionspsychologisch ganz eindeutig mit einem typischen System-1-Phänomen zu tun. Und der Glaube an die Auferstehung der Tongestalten in der jenseitigen Welt konnte natürlich nur dadurch aufrecht erhalten werden, dass man jegliches System-2-Denken von der ganzen Thematik Tod und Weiterleben nach dem Tod konsequent fernhielt. Man hat hier also ein Beispiel reinen System-1-Denkens vor sich.

Auch heute gibt es ja noch viele Menschen, die z.B. vor einer Madonnenstatue beten, wobei durch die Anwesenheit des Abbilds der Gottesmutter die Empfindung wachgerufen wird, die Angebetete sei dadurch auf eine bestimmte Weise tatsächlich gegenwärtig. Vermutlich würde aber zumindest kein Bewohner heutiger entwickelter Industrienationen mehr auf die Idee kommen, die Heilige Maria könne wahrhaftig irgendwann die Fleischwerdung vollziehen und als Mensch mit Haut und Haaren von ihrem Sockel herabsteigen.

Am Madonnenbeispiel sieht man nicht zuletzt, dass System 1 nicht aufhört, aktiv zu sein – auch heute läuft es unermüdlich, woran ja auch garnichts Schlechtes ist, versorgt es uns doch im Alltag laufend mit unendlich vielen nützlichen und meist stimmigen Assoziationen. Aber in bestimmten Zusammenhängen, nicht zuletzt bei politischen, ethischen und weltanschaulichen Fragen, berät uns System 1 oft ausgesprochen schlecht. Das Zuschalten des kritischen und kontrollierenden Systems 2 wäre hier meist dringend angezeigt. Aber es ist so wunderbar mühelos und einfach, nur im kindlich-intuitiven Modus des experiencing-is-believing zu verbleiben, in dem alles was man vage fühlt, unmittelbar wahr ist, in dem die erste Antwort, die einem unwillkürlich in den Sinn kommt, auch immer gleich die richtige ist. Dagegen ist, wie gesagt, die Aktivierung von System 2 anstrengend, und noch dazu liefert es oft Antworten, die unseren Gefühlen und Intuitionen zuwider laufen. Wir mögen es ganz und gar nicht, wenn unsere Gefühle in Frage gestellt werden. Und so wird die Mobilisierung des (selbst)kritischen und Präzision einfordernden Systems 2 sehr häufig vermieden. Oft wird sie sogar als Zumutung empfunden.

~ ~ ~

Die globale Bewegung der neuen Rechten ist eine einzige große Revolte gegen eben diese Zumutungen des System-2-Denkens. Sie ist ein Aufstand weiter Kreise der Gesellschaft gegen Aufklärung und Moderne. Sie ist der umfassende Versuch einer Restauration, um wieder zurückzufinden zu einem Zustand aus seligen Zeiten, in denen System 2 noch nicht so viel Macht hatte wie heute. Sie ist damit auch eine kollektive Regression.

Regression bezeichnet den Rückschritt auf ein früheres Entwicklungsniveau oder allgemeiner die Aktivierung von archaischen und infantilen Seiten der Persönlichkeit. Dies muss nicht unbedingt etwas pathologisches haben. Wenn Erwachsene wie Kinder herumalbern, so vollziehen sie eine vorübergehende und sehr genussvolle Regression im Dienste des Ichs[4]. Schon bedenklicher: Menschen, die Schlager oder Volksmusik hören, regredieren auf musikalischem Gebiet oder sind in ihrem Musikempfinden von vornherein sehr kindlich geblieben; die Eingängigkeit und Simplizität dieser Musik, verbunden mit einer honigsüßen Sentimentalität, lassen die Betroffenen eine wundervolle Leichtigkeit und Entlastung vom schwierigen und komplizierten Leben eines Erwachsenen des 21. Jahrhunderts verspüren. So ähnlich funktioniert auch Rechtspopulismus: statt der schwerverdaulichen Kost einer Politik vieler kleiner Schritte und Kompromisse, die ja auch mit einer dauernden Forderung nach Selbstkontrolle und Zivilisiertheit verbunden ist, verabreicht man sich lieber ein angenehm gezuckertes Breichen einfacher Empfindungen, das keine Zähne erfordert und das man anstrengungsfrei schlucken kann.

Reines System-1-Denken bzw. -Fühlen, bei dem System 2 völlig abgeschaltet ist, ist generell wie solch ein süßer Brei. Der Modus des Experiencing-is-believing ist das politisch-weltanschauliche Fast-Food für Menschen, die zwar das Wahlrecht besitzen, aber eigentlich Kinder geblieben sind. Wirklich gefährlich wird es spätestens, wenn diese Kinder an den Knöpfen sitzen, mit denen die Atomraketen gestartet werden.[5]

Literatur

Kahneman, Daniel (2014). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Pantheon. (Amer. Originaltitel: Thinking, Fast and Slow. New York: Farrar Straus & Giroux, 2011.)

~  ~  ~

Anmerkungen

[1] Passend dazu spuckt die Suchmaschine u.a. aus: https://www.amazon.com/Seeing-Believing-Experience-through-Imaginative/dp/080106502X

[2] Frei nach Matth. 11, 28 – 30 und Matth. 5, 3

[3] Zu System 1 und 2 und den Forschungstraditionen, die dieser Unterscheidung zugrundeliegen, in Kürze mehr in diesem Blog.

[4] Die Begrifflichkeit „Regression im Dienste des Ich“ stammt vom Psychoanalytiker Ernst Kris (1900 – 1957).

[5] Natürlich ist klar, dass für eine umfassende Erklärung der Bewegung der neuen Rechten noch andere Aspekte wichtig sind. Hier sollte bewusst nur eine Deutung aus Sicht des Dual-Process-Ansatzes versucht werden.
© Matthias Wehrstedt 2016

2 Gedanken zu “„Experiencing is believing“ – Die neuen Rechten im Lichte von Dual-Process-Theorien

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s